„Die Ur-Germanen trieben Astronomie. Goldgewandete Priester peilten den Mond in Hinkelstein-Tempeln an. Plötzlich offenbart sich eine verschollene Hochkultur.“, schrieb der Spiegel über den Fund der Himmelsscheibe von Nebra. Doch Fachleute waren nicht begeistert: „Fazit: So viel Schrott, Verzeihung Ur-Schrott, war nie“, kommentierte ein Archäologe den Bericht lakonisch auf der deutschen Archäologen E-mail-Liste.
Häufig sind Historiker und Archäologen wenig erbaut von historischen Darstellungen in Zeitschriften, im Fernsehen oder anderen populären Medien. Denn oft transportieren sie die Vorstellung, dass unsere Vorfahren grundsätzlich primitiv und kulturlos waren. Manchmal etwas versteckter: So nennt zwar obige Beschreibung eine „Hochkultur“, suggeriert aber gleichzeitig, dass man den Menschen der Bronzezeit eigentlich diese Kultur nicht zugetraut hatte, die sich jetzt „plötzlich offenbart“ — was für eine Überraschung! Tatsächlich ist schon seit langem bekannt, dass in der Bronzezeit ein europaweiter Kulturund Güteraustausch stattfand und die Mitteleuropäer keineswegs kulturlose Wilde waren.
Auch die Verwendung anderer Versatzstücke („Hinkelstein-Tempel“, „Ur-Germanen“) vermittelt kein korrektes Geschichtsbild, sondern bedient eine vorhandene Erwartung der Leser über die Vergangenheit. (Der Begriff „Ur-Germanen“ ist z. B. problematisch zur Beschreibung von Menschen, deren Sprache und Stammbaum wir gar nicht kennen.)Die Darstellung und unsere Interpretation des „Fremden“ ist ein komplexes Phänomen. Hierzu ein ganz anderes Beispiel: Schamanismus. Ursprünglich ein Begriff aus dem sibirischen Kulturkreis, hat „Schamanismus“ heute große Popularität erreicht: Zur Beschreibung vieler traditioneller nicht-westlicher Kulturen, und im neu entstandenen spirituellen Leben westlicher Großstadtmenschen.
Doch handele es sich um eine westliche Kategorie, die fremden Völkern aufgestülpt wird, um ihre Fremdheit, Andersartigkeit zu betonen, argumentiert eine Gruppe von Mittelamerika-Experten um Cecelia Klein in der einflussreichen Fachzeitschrift Current Anthropology (Klein et al. 2002). Denn es ist keineswegs eindeutig, was „Schamanismus“ eigentlich ist. Einige Forscher sehen religiöse Trancezustände oder Drogengebrauch als das definierende Element, andere hingegen definieren Schamanismus über bestimmte kosmologische Glaubenselemente, etwa die Vorstellung eines Weltenbaumes oder -berges als Achse der Welt. Diese verschiedenen Elemente treten jedoch durchaus nicht in allen Kulturen zusammen auf, viele als „Schamanen“ bezeichnete Personen geraten niemals in Trance, und in anderen Kulturen steht nicht der „Schamane“ unter Drogen, sondern sein Patient. Und die als „Schamanen“ bezeichneten Personen haben in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedliche Rollen: Als Priester, als Magier, als Ärzte, als politische Führer.
Indem alle Völker von den nomadischen Tundrabewohnern Sibiriens bis hin zu den hierarchischen Stadtstaat-Kulturen der mittelamerikanischen Maya mit dem Aufkleber „schamanisch“ versehen werden, wird eine Einheitlichkeit ihrer Gesellschaften und religiösen Vorstellungswelten vorgetäuscht, die faktisch nicht existiert. Die Individualität der einzelnen Kulturen wird verwischt, sie erscheinen pauschal als „die schamanischen Kulturen“.
Gleichzeitig wird eine qualitative Kluft zwischen „uns“ (den modernen Menschen) und „den Anderen“ (den schamanischen Kulturen) erzeugt. Beispielsweise wurden vielen europäischen Königen magische, heilende Kräfte zugeschrieben; Charles II. von England soll im Laufe seiner Amtszeit 100 000 Menschen durch Handauflegen behandelt haben. Dennoch bezeichnet niemand Charles II. als „Schamanenkönig“, während magische Elemente des Königtums der mittelamerikanischen Maya ohne weiteres mit Schamanismus in Verbindung gebracht werden.
Der Maya-König erscheint dadurch nicht wie sein europäischer Kollege als Politiker, sondern als spiritueller Mystiker. Ebenso erscheinen Heiler nicht als Mediziner mit einem reichen empirischen Erfahrungswissen, sondern als spirituelle Geisterbeschwörer. Die Verwendung der Schublade „Schamanismus“ hebt einseitig die magischen, spirituellen Aspekte einer fremden Kultur hervor, betont damit die Andersartigkeit und vertieft die Kluft zwischen „uns“ und „den Anderen“. Dies soll freilich nicht heißen, dass man auf den Begriff „Schamanismus“ ganz verzichten soll. Wie mehrere Forscher in der gleichen Ausgabe von Current Anthropology anmerken, ist es durchaus gerechtfertigt, Religionsformen aus verschiedenen Kulturen unter einem gemeinsamen Begriff zusammenzufassen, anders wäre eine vergleichende Kulturgeschichte kaum möglich. Doch sollte dies mit Vorsicht geschehen, um nicht unwillentlich zu dieser Pauschalisierung und Verfremdung der von ihnen untersuchten Völker beizutragen.
Nun ist eine selektive, pauschalisierende oder gar verzerrende Darstellung des „Fremden“ natürlich nicht auf die hier genannten Beispiele beschränkt. Wir Menschen haben die natürliche Neigung, unsere eigene Gruppe in Abgrenzung zu anderen Gruppen zu definieren und dabei die Unterschiede zu betonen.
Für mich als Leser und Informations-Konsument geben diese Beispiele Anlass zur Vorsicht, zum ständigen kritischen Nachfragen, ob mir etwas präsentiert wird, das vorhandene Erwartungen und Vorurteile ansprechen soll. Waren die Neandertaler wirklich die ungewaschenen Typen mit verfilzten Haaren, wie es eine Fernsehdokumentation zeigt? Und waren — eine Vorstellung, die sich implizit z.B. durch die präastronautische Literatur zieht — die Ägypter oder die Mesopotamier wirklich so unkreativ, dass sie zur Entwicklung einer Kultur einen Anstoß von außen (durch Außerirdische oder Atlantier) brauchten?
Literatur
- Klein, Cecelia F; Guzmán, Eulogio; Mandell, Elisa C; Stanfield-Mazzi, Maya (2002): The Role of Shamanism in Mesoamerican Art — A Reassessment. Curr. Anthropol., 43 (3), 383–419.
Eine Version dieses Textes wurde als Editorial in Skeptiker 4/2002, dem Vereinsblatt der GWUP, abgedruckt.