„Sind Geister nur tiefe Töne?“, ging es durch die Presse. Forscher hatten entdeckt, dass unhörbar tiefe Töne unangenehme Gefühle verursachen — und manche alten Gemäuer können wie extrem tiefe Orgelpfeifen wirken. Eine schöne naturalistische Erklärung für ein paranormales Phänomen, nun wissen wir endlich, was an Geistern dran ist — nichts als tiefe Töne!
Hintergrundinfo
Diesen Text habe ich Ende 2003 zusammen mit Inge Hüsgen als Editorial für den Skeptiker, das Vereinsblatt des Skeptikervereins „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften“ (GWUP), geschrieben. Motiviert wurde das Editorial durch einen Artikel von Gerhard Mayer in der gleichen Ausgabe über ein medienwissenschaftliches Forschungsprojekt, das die Berichterstattung in Spiegel und Bild über grenzwissenschaftliche Themen untersucht (siehe die Zusammenfassung sowie einen ausführlicheren Bericht). Seine Arbeit ergab die Beobachtung: Während die Bild-Zeitung keine einheitliche Position vertritt und der Unterhaltungswert im Vordergrund steht, vertritt der Spiegel konsequent eine ablehnende Haltung. Diese wird aber in den Spiegel-Artikeln nicht sachlich-rational begründet, vielmehr wird durch einseitige, polemisierende Darstellung eine differenzierte Auseinandersetzung verhindert. Da mir nach über zehnjährigem Engagement in zentraler Rolle in der GWUP klar war, dass auch unter den GWUP-Aktiven und -Unterstützern polemisches und emotionales Vorgehen und das persönliche Lächerlichmachen von Andersdenkenden oft unreflektiert akzeptiert werden, hielt ich es für wichtig, Mayers Arbeit zur Diskussion zu stellen und mit diesem Editorial zum Nachdenken anzuregen.
Geister in der Orgel und in der Zeitung
„Sind Geister nur tiefe Töne?“, ging es vor kurzem (Mitte 2003) durch die Presse. Forscher hatten entdeckt, dass unhörbar tiefe Töne unangenehme Gefühle verursachen — und manche alten Gemäuer können wie extrem tiefe Orgelpfeifen wirken. Eine schöne naturalistische Erklärung für ein paranormales Phänomen, nun wissen wir endlich, was an Geistern dran ist — nichts als tiefe Töne!
Doch „Halt!“ werden Sie als skeptische Skeptiker-Leser ausrufen: Entsteht wirklich jeder Spuk auf diese Weise? Gibt es nicht andere Erklärungsmöglichkeiten, die je nach Einzelfall eine Rolle spielen? Und hieß es nicht vor kurzem, dass Spuk nichts anderes als der Effekt eines kalten Luftzuges sei, während letztes Jahr Dopamin im Gehirn als die Erklärung für anomalistische Erfahrungen gehandelt wurde?
Zweifellos, die Infraschall-Studie erforscht einen interessanten, neuen Aspekt der menschlichen Wahrnehmung, der bisher kaum Beachtung fand. Zur Erklärung von Spukberichten ist dies Ergebnis jedoch zunächst nur eine Hypothese, die dann im konkreten Einzelfall zusammen mit anderen Hypothesen bedacht und letztlich bewiesen werden muss: Fand die konkrete Erfahrung wirklich in einer Umgebung mit tiefen Tönen statt? Und lassen sich tatsächlich alle Elemente eines Erfahrungsberichtes darauf zurückführen, etwa wenn Personen nicht nur ein mulmiges Gefühl, sondern auch Erscheinungen berichten, oder muss man andere Hypothesen überprüfen? Und vielleicht sogar manche Aspekte (vorläufig) unerklärt lassen? Ja, wird nicht die Interpretation von außergewöhnlichen Wahrnehmungen als Spuk auch essenziell von kulturellen Prägungen und der individuellen Persönlichkeit bestimmt?
All diese Fragen stellen die Medien nicht, sondern vermitteln den Eindruck, das generelle Phänomen „Spuk“ sei nun erklärt. Als Wissenschaftler kann man mit dieser Art der Wissenspopularisierung nicht völlig zufrieden sein — Wissenschaftler sind neugierig und geben sich selten mit einer monokausalen Erklärung zufrieden, gerade wenn sie einfach und einleuchtend erscheint. Die Komplexität der Welt sollte auch in der Popularisierung von Wissenschaft reflektiert werden.
Daher ist es interessant, sich die Medien-Berichterstattung über anomalistische Phänomene genauer und kritischer anzusehen. Dabei kann gerade dann Skepsis angebracht sein, wenn eine naturalistische Erklärung favorisiert wird. Zwar werden die meisten Wissenschaftler naturalistische gegenüber übernatürlichen Erklärungen bevorzugen, doch nicht jede beliebige naturalistische Erklärung passt auf jedes konkrete Phänomen — und man darf als skeptischer Wissenschaftler nicht den allzu menschlichen Fehler begehen, in der Begeisterung für eine naturalistische Erklärung (z. B. tiefe Töne) für ein „übersinnliches“ Phänomen (Geister) jegliche Skepsis gegenüber dieser Erklärung über Bord zu werfen.
Der Wunsch nach naturalistischen Erklärungen für paranormale Phänomene kann, wenn man nicht selbstkritisch bleibt, zu weiteren Denk- und Argumentationsfehlern führen. So etwa der Fehler, nicht die eigentlichen Belege für oder gegen eine Behauptung kritisch zu untersuchen, sondern die Vertreter der Behauptung oder ihr Umfeld persönlich (etwa aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit) unter Beschuss zu nehmen, selbst wenn dies für die Beurteilung der Sache gar keine Rolle spielt.
Doch trotz mancher martialischer Töne, die mitunter bei den US-amerikanischen Skeptikern, aber auch in Europa zu hören sind, herrscht kein Krieg gegen den übemächtigen Feind des Irrationalismus, in dem jede Waffe und jede Taktik erlaubt sind, um Scharlatane zu entlarven und „der Hydra den Kopf abzuschlagen“. Eine sachliche Auseinandersetzung ist aus (mindestens) zwei Gründen empfehlenswert.
Der erste Grund ist taktischer Natur. Wer wild mit Feuer und Schwert auszieht, um der Hydra den Kopf abzuschlagen und unwissende Verblendete aus ihren Fängen zu befreien, riskiert, dass diese sich selbst angegriffen und bedroht fühlen und keineswegs den Befreiern zujubeln, sondern sich verteidigen: Eine unsachliche Argumentation erzeugt kein Verständnis, sondern Abwehr.
Der zweite, wichtigere Grund ist inhaltlich. Wer wild mit Feuer und Schwert auszieht, um der Hydra den Kopf abzuschlagen und unwissende Verblendete aus ihre Fängen zu befreien, merkt nicht, dass er oft kein Monster vor sich hat, sondern ein zwar exotisches, aber harmloses Wesen, das von freien Menschen aus nachvollziehbaren Gründen geehrt wird, und dessen Studium sehr interessant sein könnte. Wissenschaftler streben nach Erkenntnis, und auch aus Ungewöhnlichem kann man mitunter viel lernen. Daher gehört zum wissenschaftlichen Denken das Bemühen, andere Positionen nicht pauschal abzulehnen, sondern ernsthaft zu verstehen. Vielleicht hätte man auch weniger über die Wirkung tiefer Töne gelernt, wenn man jegliche Spukerfahrung pauschal als Spinnerei abgetan hätte?
Nicht nur in der griechischen Mythologie ist es vorteilhaft, beim gewaltsamen Abschlagen von Hydra-Köpfen vorsichtig zu sein, und statt dessen auf eine undogmatische, sachbezogene Argumentation zu setzen — sowohl aus Respekt für den Diskurspartner als auch für die eigene Erkenntnis.
Es sollte daher nachdenklich machen, wenn gerade Medien, die ein rationales, naturalistisches Weltbild vertreten, Diskursstrategien verfolgen, die einer rationalen Auseinandersetzung mit der Sache nicht dienlich, sondern eher hinderlich sind. Die Daten und Textbeispiele, die Gerhard Mayer in seinem Artikel auf S. 84 (in Skeptiker 3/2003) vorstellt, können daher ein Anlass sein, den Umgang von Medien mit dem Paranormalen kritisch zu hinterfragen.
Eine Version des Textes wurde auch abgedruckt in: Editorial in Skeptiker 3/2003